Diese website ist den Frauen gewidmet, die geglaubt hatten, eine Geliebte oder gar die Geliebte Arthur Schnitzlers zu sein. Ein bitterer Irrtum, denn manch eine von ihnen verfehlte dadurch ihr Glück oder endete sogar in Elend und Siechtum. Arthur Schnitzler hat alle ihre Briefe aufbewahrt, auch wenn diese Frauen allein dadurch davor bewahrt wurden, vergessen zu werden, mit Ausnahme der Adele Sandrock.
Die Briefe werden hier in zeitlicher Reihenfolge veröffentlicht, also nicht nach dem Namen der Verfasserinnen geordnet. Es sind zunächst wenige Briefe. Im Laufe der Zeit werden die Lücken kleiner werden.
In einem zweiten Abschnitt werde ich mich mit der Sekundärliteratur zu Arthur Schnitzler auseinandersetzen, auch mit einigen Meinungen zu meinen beiden Büchern.
Über einen Mangel an Arbeit hatte ich mich nach der Pensionierung nicht zu beklagen. Bei meinen Pferden gab es Arbeit ohne Ende. Zaunbänder flicken, Pfähle setzen, die Weiden pflegen. Aber ich bedauerte denn doch, daß ich niemandem mehr erklären konnte, wie man mit einem Text umgehen mußte. Ich konnte auch niemandem mehr vermitteln, dass er Anteil hat an der Kultur, die mit dem Hildebrandslied begann und mit Grass' "Katz und Maus" noch lange nicht zu Ende ist.
Da fiel mir eine Biographie Arthur Schnitzlers in die Hände. Natürlich kennt man als Deutsch-Lehrer Arthur Schnitzler, nun ja, was heißt "kennt"? Man gestaltet eine zweiwöchige Unterrichtseinheit über den "Leutnant Gustl" anhand von Modellen und Analysen, innerer Monolog, Ehre, Frauen, Militär, das kennt man doch alles.
Nun also eine Biographie und zwar eine Biographie, die Züge einer Heiligenlegende aufwies, auch wenn sie Schnitzlers Tagebuch folgte. An einigen Stellen schien die Wirklichkeit aber doch zu sehr geglättet. Da stirbt eine junge Frau, zu der Schnitzler über vier Jahre eine Beziehung unterhalten hatte. Und diese junge Frau hatte zwei Jahre zuvor ein Kind tot geboren. Ich hatte meine Zweifel, was den Tod jener Frau anging, und schrieb der Verfasserin, zunächst über ihren Verlag: Die Maria Reinhard sei doch schon einmal von Schnitzler geschwängert worden. Könnte es sein, daß sie nicht an einer Blinddarmentzündung gestorben ist, sondern an den Folgen einer Abtreibung. Die Antwort kam bald: Nein, ganz sicher nicht. Aber sie wolle den Professor N.N. fragen, er sei der Fachmann für Schnitzler. - Nun, was konnte er antworten, wenn die Antwort wissenschaftlichen Maßstäben entsprechen sollte? Er konnte sagen: Schnitzler habe vier Jahre später gegenüber der Schwester der Toten gesagt, es sei eine Blinddarmentzündung gewesen. - Wenn Professor N.N. im Sterbebuch der zuständigen Pfarre nachgeschaut hat oder hätte, hätte er mitteilen müssen: im Sterbebuch sei "B auchfellentzündung" vermerkt. Ich hätte auch verstanden, wenn er mir über die Biographin mitgeteilt hätte: Er sei nicht dabei gewesen und wisse es nicht. - Aber die Biographin teilte mir mit: Professor N. N. sei sicher, eine Blinddarmentzündung habe zum Tod der jungen Frau geführt.
In der Ulmer Stadtbibliothek lieh ich mir einen Band von Schnitzlers Tagebüchern aus. Und stand im Januar 1899: Neue Sorgen. Dann ist von dem merkwürdigen drängenden Auftritt der Frau des Malers Russ die Rede. Und auf einmal ist Maria Reinhard krank, sehr krank und stirbt. - Nun noch eine Mail an die Biographin: "Neue Sorgen" bedeute doch wohl Schwangerschaft. - Nein, das müsse anders verstanden werden. Sie vermute bei mir eine ablehnende Haltung gegenüber Juden. Oder schrieb sie von einer "anti-semitischen" Einstellung? Gleichviel, ich beeilte mich zu erwähnen, ich hätte die Judenverfolgung im Geschichtsunterricht immer sehr ausführlich behandelt und hätte mit Klassen auch die Synagoge in Köln besucht. - Ich sah, man begab sich auf vermintes Gelände, wenn man sich mit Schnitzler beschäftigte. Aber man durfte sich auch nicht einschüchtern lassen. Ich musste der Sache auf den Grund gehen.
Die Methode konnte nicht darin bestehen, die Einträge im Tagebuch in die Form vollständiger Sätze zu gießen. Man kann nicht voraussetzen, dass Schnitzler die Wahrheit, die vollständige Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagte. Ganz sicher dienten ihm die Einträge dazu, ihm die Zusammenhänge ins Gedächtnis zurückzurufen. Aber man weiß nicht, inwiefern er berücksichtigte, dass die Tagebücher später von andern gelesen würden, von Familienangehörigen und schließlich von Literaturwissenschaftlern. Eines steht fest: er wollte durch den Nachlass zeigen, wer er war, durch die Tagebücher und durch seine Korrespondenz, durch die Briefe, die Frauen an ihn richteten, als auch jene von Lesern und von Schriftsteller-Kollegen.
Wer es ablehnt, die private Korrespondenz heranzuziehen, befindet sich im Widerspruch zu Schnitzlers Absichten. Man wolle nicht über Schnitzlers Privatleben "spekulieren", - das ist eine bequeme Ausrede. Sie erspart einem, hunderte von Briefen zu lesen, die im Deutschen Literaturarchiv lagern. Mit den Briefen ist es nicht getan. Mit der Methode, so viele Quellen wie möglich zu erschließen, kommt man kaum je an ein Ende, aber man kommt immerhin der Wahrheit auf asymptotische Weise näher.
Als ich meinte, die Diagnose "Blinddarmentzündung" lasse sich nicht aus der zeitgenössischen Literatur bestätigen, wunderte sich die Biographin: "Woher wissen Sie denn das?" Ich wußte es, weil ich die Aufsätze von Schnitzlers Bruder und anderen Ärzten zum Thema "Blinddarmentzündung" gelesen hatte. "Und wie sind Sie da drangekommen?" In der Wiener Universitätsbibliothek.
Andere Quellen stellt die Österreichische Nationalbibliothek bereit. Über Anno kann man in Zeitschriften danach suchen, wie Ärzte und Hebammen mit Abtreibungen umgegangen sind.
Da saß ich nun auf der Schwäbischen Alb und war entschlossen herauszufinden, wie es gewesen war oder gewesen sein konnte. Der Kontakt zur Biographin half nicht weiter. Es war klar: an ihrem Bild von Arthur Schnitzler durfte nicht gerüttelt werden. Aber der Kontakt zu jenem Professor N. N. war problemlos herzustellen. Mir war es willkommen, dass sich jemand dafür zu interessieren schien, was ich immer wieder einmal entdeckte. Was ich mitteilte, wurde freundlich, leutselig, jovial zur Kenntnis genommen, sogar noch nach Mitternacht. Das Interesse motivierte mich. Eine Diskussion darüber, wie dieses oder jenes Ereignis zu werten sei, kam jedoch nicht zustande. Ich informierte Professor N. N. 1, er bestätigte, die Information bekommen zu haben. Ich erinnere mich nur an einen Fall, bei dem er mir widersprach. Unter dem 8. März 1897 trug Schnitzler ins Tagebuch ein: " Mit Mz. Rh. ziemlich verunglückte Excursion bei schlechtem Wetter ins Gebirge nach P. Forsthaus besichtigen. Bahn, Wagen etc."
Die Frage war: wie gelangten Maria Reinhard und Schnitzler zu dem Forsthaus? Lag das Forsthaus in P. oder fuhr man mit der Bahn nach P. und setzte die Fahrt zum Forsthaus mit dem Pferdewagen fort. - Ich war für die Lösung: mit der Bahn über St. Pölten nach Freiland und von dort mit dem Wagen zum Ziel Forsthaus. Doch damit stieß ich auf energischen Widerspruch: Nein, nein, nein, St. Pölten kürze man nicht mit "P." ab. Aber die Abkürzung "St. P." hätte der Absicht des Autors widersprochen, so viel anzudeuten, dass er sich erinnerte, aber nur so wenig anzudeuten, dass dem Leser die Wahrheit vorenthalten blieb.
Also kurz und gut, es motivierte mich, dass ich Professor N. N. 1 schreiben durfte. Weiter nichts. Ob es günstig war, für ihn oder für mich, dass er über jeden Schritt meinerseits in Kenntnis gesetzt war, - ich weiß es nicht. Immerhin sah er, wie konsequent ich vorging.
Mit Sekundärliteratur wollte ich mich nicht auseinandersetzen. Mein Weg, die Erschließung der Briefe der betroffenen Frauen oder von zeitgenössischer medizinischer Literatur, mußte zuerst zu einem Ergebnis führen, das ich der vorherrschenden Meinung gegenüberstellen konnte.
Diese vorherrschende Meinung findet sich in den Schnitzler-Ausgaben von Reclam. Sie geht aus von der seit Urzeiten wiederholten Lehrer-Frage:
Was sagt uns...? Was sagt uns das Nibelungenlied, was sagt uns das Sonett "Mitternacht" von Andreas Gryphius, was sagt uns "Kabale und Liebe" und eben "Liebelei" von Schnitzler? Das, sagt eine bedeutende Germanistin (N. N. 2) interessiere sie, und nicht, ob ein Schriftsteller das, "was in seinen Büchern steht, durch sein Privatleben beglaubigen konnte oder eben nicht konnte." Sie verstehe sich als "Textwissenschaftlerin", indem sie annehme, dass "Texte gleichsam klüger sein können als ihre Autoren." Wie aber ermittelt man, dass Texte "gleichsam" - inwiefern "gleichsam"? - klüger sind als ihre Autoren? Anscheinend muss man von der Person des Autoren absehen, um die Tragweite eines Texts zu erkennen. Deswegen lehne sie auch ab, Autoren einer "Moralkontrolle" zu unterziehen, die vielleicht gar dazu führen könne, daß "unser literarischer Kanon ansonsten völlig verarmte." Man könne die Bedeutung eines Autors nicht davon abhängig machen, ob er als "biographisches Vorbild" diene. Wie wahr! Wer aber teilt denn überhaupt Autoren danach ein, ob sie "biographische Vorbilder" sind oder nicht? Die Aufgabe der Germanistik besteht nicht in Volkspädagogik. Aber nach der "Wahrheit des Worts" , nach der "Klugheit des Texts" zu suchen, hat auch nichts mit Wissenschaft zu tun. Das sind nur - um mit Wackernagel zu sprechen - "Herzensergießungen einer kunstliebenden" Person in Wien und in Wien muß man schließlich etwas von Schnitzler verstehen, eigentlich nur dort.
Eine andere Germanistin (N. N. 3) sieht sich zwar nicht als "Textwissenschaftlerin", sondern als "Theaterwissenschaftlerin", aber auch sie will sich nicht in "Spekulationen" über Schnitzlers "Privatleben" verlieren. Immerhin kann sie sich durchaus vorstellen, daß man eines fernen Tages auch die Privatkorrespondenz erschließt. Aber vorläufig glaubt man anscheinend, ohne die Briefe auszukommen, die Frauen an Schnitzler geschrieben haben. Seltsam, das Wort "Spekulation" taucht wie in der Quantenphysik in einer "spukhaften Verschränkung" da und dort auf, in Wien und in London, ähnlich wie der Begriff der "patriarchalischen Gesellschaft", mit dem nach Meinung einiger Leute schon alles erklärt ist, erst recht, wenn man (N. N. 4) noch einen "inzestuös-traumatischen Familienzusammenhang" hinzunimmt. Aus dieser überlegenen Perspektive ist man allenfalls dazu bereit, mir dafür zu danken, dass ich einige unbedeutende Frauen der Vergessenheit entrissen habe.
In Wien hat man es noch mit ganz anderen Leuten zu tun. Nachdem ich das erste Buch - "Der Mensch ist eine Bestie" abgeschlossen hatte, gestaltete ich Wikipedia-Einträge über Maria Reinhard und Maria Chlum. Wikipedia verlangt, dass Einträge allgemein anerkanntes, gesichertes Wissen bieten. Alles Wissen habe ich selbst erarbeitet. Sicher habe ich nicht genau genug unterschieden zwischen dokumentarisch belegtem Wissen und den Implikationen, die sich aus Umständen ergaben. Irgend jemandem (n. n. 1) bot sich die Gelegenheit, meine Texte zusammenzustreichen, natürlich nicht um der Wahrheit willen. Der Kommentar deutet es an, den er unter den Titel meines Buches setzte, kaum dass das Buch erschienen war: Es spiele in der Schnitzler-Forschung keine Rolle. Es muss ihm eine hämische Freude bereitet haben, unter dem Schein von Objektivität seiner Bosheit freien Lauf lassen zu können. Vielleicht hat er die Kunde von seinem Streich auch unter den betreffenden Wiener Germanisten verbreitet, vielleicht hat man ihm anerkennend auf die Schultern geklopft, wenn man ihn nicht sogar gebeten hatte, mir auf die Finger zu sehen. Kaum hatte ich das zweite Buch veröffentlicht und auch dem Professor N. N. geschickt - auch wenn ich von vorn herein wußte, er würde sich kein Wort entlocken lassen - da wurde über eine Buchhandlung in der Währinger Straße ein Exemplar bestellt. Ich lieferte es so schnell es ging und fast noch schneller kam es zurück - ungeöffnet in der Originalverpackung, aber immerhin ohne Nachgebühr. Ich muß annehmen, daß ein gewisser Kindskopf zeigen wollte, was er von meinen Versuchen , Schnitzler zu verstehen, hielt. Leute gibt es in Wien, unglaublich. Um Schnitzler zu "retten", ist man um keine Albernheit verlegen, aber auch um keine boshafte Intrige. Aber eigentlich sollte man von einem - gewesenen - Lehrstuhlinhaber (N. N. 1) nicht erwarten, dass er servilen Nachwuchs fördert.
Da lobe ich mir doch die Biographin. Kaum hatten wir uns in ihrem Heim, einer wahren Schatzkammer, zu einer Tasse Kaffee zusammengesetzt, da fuhr sie mich an: sie wolle sehen, woher ich die manische Wut nähme, mit der ich den Schnitzler verfolge. Das nenne ich Offenheit. Ich beantwortete gern ihre Fragen, auch wenn ich sie schließlich meinerseit fragen mußte, ob sie das Buch denn gelesen habe: Ja, aber mit innerem Widerwillen. Oh sancta simplicitas! Bin ich denn schuld, dass Maria Reinhard abtreiben ließ und starb?
Ein Kampf um Schnitzler
Nach der Unterhaltung setzten wir den " Kampf um Schnitzler" digital fort:
Renate Wagner am 18. Juli 2020
Es war schön, sich mit Ihnen zu unterhalten, obwohl mir klar war, dass ich nicht immer freundlich war. ...Aber dass Sie mit solcher Entschlossenheit einen Kreuzzug führen, Arthur Schnitzler als Menschen und Dichter gnadenlos zu vernichten, das musste mich ganz, ganz tief erschüttern.
Wie dem auch sei, ich bin neugierig, ob Sie den "Sohn" finden, aber vor allem würde ich wirklich bitten, dass Sie die geäußerte Idee verfolgen, die "Frauenbriefe" Schnitzlers )und der Damen) in chronologischer Form zu edieren. Das würde die Forschung an Faktischem Wertvolles beifügen.
Renate Wagner am 28. August 2020
Teilen Sie mir hier wirklich mit, dass Sie die Arbeit an Schnitzler beenden?
Sie haben doch so viel Vorarbeit geleistet!
Wenn Sie aufhören, Schnitzler als "Mörder" von Maria Reinhard hinzustellen, kann mich das natürlich nur freuen. Aber was ist mit den Frauenbriefen, die Sie erwähnt haben und von denen Sie offenbar so viele schon gelesen (also folglich auch aus Schnitzlers schrecklicher Schrift "transkribiert") haben?
Sie könnten sich nicht nur als "Störenfried" in die Schnitzler-Forschung eintragen, sondern einen echten Basis-Beitrag liefern , wenn Sie unveröffentlichtes Material transkribiert und kommentiert an die Öffentlichkeit bringen.
Und da wäre Ihnen auch nur Lob und Zustimmung und keinerlei Protest zutiefst verstörter Schnitzler-Liebhaber sicher, auf die Sie so reichlich gestoßen sind.
Ich am 30. August 2020
Ich danke Ihnen für das aufmunternde Schreiben. Aber ich darf nicht mehr mit derm Komplex Schnitzler meine Zeit vertun, nachdem ich vergeblich auf meine Argumente hinzuweisen versucht habe. In Wien renne ich damit gegen eine Mauer. Man will mir keine Gelegenheit geben darzustellen, was in den Jahren 1897 bis 1899 geschehen ist. Außer Ihnen natürlich.
Es liegt nicht bei mir zu entscheiden, ob A. S. - wie Sie schrieben - ein Mörder ist oder nicht. Ich kann nur Quellen ausfindig machen und erschließen und fragen: Was ergibt sich daraus hinsichtlich der Absichten der handelnden Personen - nach Meinung der jeweiligen Verfasser z. B. von Briefen. Rosa Freudenthal beispielsweise hatte im Gespräch mit A. S. den Eindruck gewonnen, am liebsten wäre es ihm, Maria Reinhard stürbe. Als sie dann erfuhr, dass Maria Reinhard vor ihrer Niederkunft stand, verdichtete sich der erste Eindruck: Freudenthal vermutete, A. S. hoffe, Maria Reinhard werde bei der Geburt sterben. Nun wissen wir, dass das oder ein Kind quer im Geburtskanal lag. Der Gynäkologe Dr. Mandl musste das schon geraume Zeit vor der Geburt wissen, und es war auch klar: Maria Reinhard befand sich in Lebensgefahr. Jeder andere Arzt hätte daraus die Schlussfolgerung gezogen: Maria Reinhard muss in das Spital verlegt werden, wo man sie operieren konnte. Mit diesen Fakten und meinen Schlussfolgerungen will sich niemand - in Wien wenigstens niemand auseinandersetzen, auch Sie nicht.
Genauso wenig will man sich mit meiner Vermutung auseinandersetzen, dass M. Rh. Zwillinge geboren hatte, deren einer überlebte. Dabei habe ich doch Hinweise und Beobachtungen klar genannt:
Die erneute Suche nach Pflege-Eltern nach M. Rh.'s Rückkehr nach Wien und der Untersuchung durch Dr. Mandl
Die drei Dokumente bezüglich Pflegeeltern in S.'s Nachlass
Die Andeutung im Brief der Lola auf ehrloses Verhalten Schnitzlers, das sie zwinge zu lügen
Die Frage der Freudenthal, ob das Kind wirklich tot sei
Die Bemerkung der Frau K-k
Die immer wieder erneuerte Erfahrung, dass man sich das traditionelle Schnitzler-Bild nicht nehmen lässt, dass man es vermeidet, sich mit meinen Argumenten auseinanderzusetzen, veranlasst mich, die Causa Schnitzler beiseite zu schieben.
Bei unserem Gespräch fragten Sie mich, ob mich die ausbleibende Resonanz nicht nachdenklich stimme. Sicher tut sie das, aber ganz anders, als Sie Ihre Frage meinten. Wissenschaft besteht doch n nicht darin zu bestätigen, was alle schon einmal gesagt haben. Widerspruch ist das Wesen der Wissenschaft.
R. W. am 30. August 2020
So, wie Sie es darstellen, haben Sie wohl recht: Die Widerstände, die Ihnen die Wiener "Schnitzlerianer" entgegensetzen, ja, auch ich, obwohl ich bereit bin, Ihre Argumente zu hören und zu erkennen, dass Sie zu Ihren Schlussfolgerungen kommen, diese Widerstände werden Sie wohl nicht überwinden. Es gibt Leute (wie auch mich), denen an diesem Dichter und auch an dem Menschen Schnitzler (den sie ja "komplett" nehmen müssen, ein ganzes langes Leben lang) zu viel liegt, als dass Sie Ihren Vernichtungs-Kreuzzug akzeptieren wollten.
Es ist natürlich schade, dass Sie so auf die in Ihren Augen negativen Ereignisse dieser kurzen Reinhard-Jahre fixiert sind, dass Sie gar nicht erwägen, Ihr Wissen um Schnitzler an anderer Stelle positiver einzusetzen, aber das ist Ihre Entscheidung.
R. W. am 30. August 2020
Mein Argument ist so stark wie Ihres: wenn es ein zweites Kind gegeben hätte, einen Sohn für Schnitzler, egal, ob die Mutter Christin war, es ist ausgeschlossen, daß er das nicht im Tagebuch erwähnt hätte.
R. W. am 3. Dezember 2020
Es ist sicher eine grundlegende Erkenntnis, daß es das Schriftsteller-Ich war, das Schnitzler prägte und antrieb und das Menschliche gelegentlich hintanstellte, wenn auch nicht in bösartigem Sinn, denn er war, man denke an die Beziehung zu seinen Kindern, durchaus der tiefen Empathie fähig.
Habent sua fata libelli.
Mein zweites Buch, das ausschließlich der Beziehung zwischen Maria Reinhard und Schnitzler gewidmet war, enthielt denn doch einiges Neue. Überzeugt, es würde auf Interesse stoßen, wollte ich mich nicht mit Verlagen herumärgern und veröffentlichte es im Eigenverlag. Nun ja, ein Reinfall. Ich schenkte es der einen und an deren Universitätsbibliothek und germanistischen Instituten, u. a. dem in Wuppertal. Der Lehrstuhlinhaber meinte aber gleich vorweg: er halte Schnitzler für einen "Moralisten" und sein Stück "Komtesse Mizzi" sei eine "heitere Gesellschaftskomödie".
Nach einigem Hin und her folgte seine "letzte" Mail:
31. März 2023
S. g. H. L.
Lassen Sie mich Ihnen noch ein letztes Mal antworten, wirklich ein letztes Mal, denn, wie Sie ja auch selbst merken, fruchtet dieser Dialog nichts.
Noch einmal zur Person Schnitzlers: was Sie da im Kern benennen - Bindungsunwilligkeit/-unfähigkeit eines jungen Mannes Anfang 30 und im Gefolge davon Versuche, die Partnerin zur Abtreibung zu bewegen bzw. sich eine Totgeburt wünschen oder, nach einer Niederkunft Versuche, die illegitimen Kinder zu verstecken, wegzugeben etc. etc. - all dies mag zwar nicht schön sein, ist aber eigentlich völlig im Rahmen der Normalität. Letzteres zumal in der damaligen Zeit. Mag sein, dass Schnitzlers Bindungsunwilligkeit aufgrund einer starken Mutterbindung besonders groß gewesen ist (das bleibt freilich Spekulation) - aber im Prinzip haben dergleichen Erfahrungen Hunderttausende anderer junger Männer auch gemacht. Zum Teil - etwa männliche Bindungsbereitschaft und -fähigkeit erst im reiferen Alter (wie ja auch bei Schnitzler) - ist das auch heutzutage noch ein wohl bekanntes Phänomen und per se nichts Verwerfliches.
All das, was Sie darüber hinaus an wahrhaft kriminelle und abnormen Motivationen Schnitzler unterstellen, ist für mich pure Phantasie bzw. Projektion, die sich aus einer seltsamen Passion - nein, Obsession - speist, diesen Autor moralisch zu "vernichten". Was Sie als angebliche Belege anführen, sind für mich nur Scheinbelege und letztlich nichts anderes als Ihre Deutung. Was Sie da eigentlich treibt, werden Sie vielleicht selbst am besten wissen. Schnitzler hatte, wie alle Menschen (und: Männer) seine Fehler - das Faszinosum der Tagebuchlektüre besteht doch darin, hier einem Autor zu begegnen, der so unerschrocken, selbstkritisch und schonungslos ehrlich gegenüber sich selbst ist wie wenig andere. Als Dichterbesaß er eben die Fähigkeit, seine eigenen dunklen Seiten - nicht das von Ihnen behauptete Kriminelle, sondern seine menschlichen/männlichen Schwächen und Fehler - zu erkennen und sie kreativ in seinen Figuren zu objektivieren.
Und damit komme ich zu seinem Werk: wie jedes literarische Werk ist auch dieses von der empirischen Person, die es hervorgebracht hat, völlig zu trennen. Das ist ein Axiom (Literatur-) wissenschaftlichen Arbeitens, und hierin stimme ich mit meinen österreichischen und britischen Kollegen völlig überein. Denken Sie etwa an einen Autor wie Gottfried Benn, dem man wahrhaft ganz andere Dinge in seinen erotischen Beziehungen "vorwerfen" kann (und vorgeworfen hat) - und dennoch verehren wir in ihm einen der größten Lyriker überhaupt der deutschen Sprache! Dass ein Werk von eigenen biographischen Erfahrungen inspiriert sein mag - geschenkt! das ist völlig trivial und wahrscheinlich meistens so. Aber das Resultat hat sich dann von diesen real-biographischen Ausgangspunkten gelöst, das entstandene Kunstwerk hat sich von der Realität emanzipiert - sonst wäre es eben gar keine Kunst. Literarische Kunst, das sind künstliche Zeichenprodukte, Artefakte, Entwürfe künstlicher Welten, Realitätskonstrukte - wie immer Sie es bezeichnen wollen. Als solche sind sie nicht mehr von irgendwelchen biographischen Erlebnissen determiniert, sondern durch die je historischen und sich wandelnden Diskurse, kollektiven Realitätsvorstellungen, Wertsysteme etc. Deshalb ist auch jeder Schluss von einem gegebenen Werk auf die Realität per se falsch und ein Kurzschluss. Und unsere Aufgabe als Literaturwissenschaftler besteht just darin, diese künstlichen Welten nach ihren heimlichen Regularitäten und Kompositionsgesetzen hin zu befragen - denn nicht jede künstliche Welt kann zu allen historischen Zeiten entwerfen werden, und nicht jeder Autor gestaltet bestimmte kollektive Erfahrungen auf dieselbe Weise.
Das Ausmaß an fehlgeleiteter Energie, das ich in Ihrem Feldzug gegen diesen Autor erkenne, macht mich beinahe schaudern. Ich wünschte Ihnen, Sie fänden ein würdigeres Ziel für Ihre Recherchen.
In diesem Sinne mit (letzten) freundlichen Grüßen
N. N.
Der Herr in Wuppertal hält, wie erwähnt, Arthur Schnitzler für einen "Moralisten", Eigentlich müsste er sich anders ausdrücken: Ein Schauspiel oder irgendein Text lässt einen Moralisten als Verfasser vermuten, jemanden, der zwar die Sitten, wie sie nun einmal sind, beschreibt, aber denn doch von einer normativen Sittenlehre ausgeht. Da sich der Herr aus Wuppertal nicht für biographische Fakten interessiert, muss man ihm eigentlich vorhalten, er schließe vom literarischen Text auf dessen Verfasser. Es scheint, es erging ihm ähnlich wie der "Biographin": als junges Mädchen habe sie Schnitzlers "Liebelei" gesehen und sofort gewusst, der Verfasser müsse ein lieber, guter Mensch sein. Sie habe sich geradezu in ihn verliebt. Eine verständliche Reaktion auf ein Theater-Erlebnis. Aber ein (Literatur-) Wissenschaftler sollte unterscheiden zwischen dem Verfasser und der Rolle, die er als Autor eines Stücks einnimmt.
Das liebste psychologische Phänomen der Germanisten ist die "Mutterbindung", entweder als "starke Mutterbindung" oder "schwache" oder "fehlende". Da jeder Autor eine Mutter hat, wird die Bindung an sie auf die eine oder andere Weise wirken, auch heute bei hunderttausenden jungen Männern, die nicht dichten, weiß der Autor des obigen Briefes. Man muss ihm beipflichten: an der Mutterbindung ist "nichts Verwerfliches". Es ist nur albern, mit der "Mutterbindung" zu argumentieren.
Was nun der Herr in Wuppertal mit den "wahrhaft kriminellen und abnormen Motivationen" meint, die ich Schnitzler unterstelle, weiß ich nicht. Ich vermute, er hat keines meiner Bücher gelesen. Nur ein Beispiel: Schnitzler will Anna Heeger loswerden. Sie erwartet, dass er ihr den Schritt in ein neues Leben finanziell erleichtert. Nun scheint er das Gerücht ausgestreut zu haben, er habe sie mit 10.000 fl abgefunden. Prompt entdeckt ein Mann seine Liebe zu ihr und beginnt seine Karriere als Betrüger und Heiratsschwindler, indem er Anna Heeger heiratet. Schnitzler handelt hier unanständig, er streut eine Lüge aus. Ist es eine "abnorme Motivation", dass er in eine abgeschlossene Beziehung nichts mehr investieren will?
Und noch ein Beispiel: Maria Chlums "Vergangenheit" war Schnitzler immer bekannt. Trotzdem quält er sie mit seinen Vorwürfen, erniedrigt sie und beschimpft sie, als sie am Badner Sommertheater engagiert ist. Sie ist verzweifelt und muß den Eindruck haben, mit dem Verhältnis gehe es dem Ende entgegen. Am Theater in Baden arbeitet auch Richard Tausenau, sein alter Freund und Syphilitiker. Er habe ein Auge auf sie geworfen, schreibt sie Schnitzler. Er erwähnt nicht, ob er sie vor Tausenau gewarnt hat, genau so wenig wie er einst Tausenau gewarnt hatte.
Aber es ist müßig, auf den Vorwurf des Germanisten in Wuppertal einzugehen, ich würde Schnitzler "wahrhaft kriminelle und abnorme Motivationen" unterstellen, zumal er doch den Kolleginnen in London und Wien recht gibt: sie seien Theater- bzw. Textwissenschaftlerinnen und die Biographie interessiere sie nicht. Eine merkwürdige Haltung: "Ihre Bücher habe ich nicht gelesen, aber es kann nur falsch sein, was Sie schreiben." Ist es eine wissenschaftliche Haltung, etwas nicht wissen zu wollen?
Nun führt der Herr in Wuppertal ein richtiges Donnerwort in seine Argumentation ein: ich würde gegen ein AXIOM verstoßen, das verlange, ein literarisches Werk von der Person, die es hervorgebracht habe, vollkommen zu trennen. Dieser Grundsatz leite literaturwissenschaftliches Arbeiten. Nun schreibt A. Szabo im "Historischen Wörterbuch der Philosophie": "..ursprünglich war das A. (scil. Axiom) nicht ein Satz, der, des Beweises weder fähig noch bedürftig, von einem jeden allgemein anerkannt und als richtig zugegeben wurde, sondern im Gegenteil: Gerade jenen Satz bezeichnete man als A., den nur der eine Dialogpartner als richtige Behauptung der Diskussion zugrunde legen wollte, während der andere Partner mit diesem Bestreben nur bedingt oder auch gar nicht einverstanden war." Nun wird jener Verfasser antworten, was interessiere ihn die Geschichte der Philosophie. Es sei ganz einfach ein "logisches Gesetz", Werk und Verfasser zu trennen. Merkwürdig, dass die Wissenschaft verbietet, einen Zusammenhang herzustellen. Nun habe ich gezeigt, dass Schnitzler im "Bernhardi" die Zahlen unterbringt, die sich im Zusammenhang mit Maria Reinhards Tod ergeben: das Datum 18. März und ihr Alter: achtundzwanzig Jahre. Damit habe ich gegen das "Axiom" verstoßen? Dagegen wende ich ein: meine Absicht war es nie, den "Bernhardi" zu interpretieren, als "Kunstwerk" interessiert er mich nicht. Sollte es "un-wissenschaftlich" sein zu zeigen, wie Schnitzler biographische Fakten verwertet? Öffnet nicht vielmehr dieses "Axiom" der interpretatorischen Willkür Tür und Tor? Ich wiederhole: es ist abwegig und dumm und beschränkt, nicht jede Methode, jede Möglichkeit, einen Text zu erforschen, zu nutzen. Aber dieses selbst erfundene alberne Axiom erfordere, sich vorzustellen, dass sich das Kunstwerk von den biographischen Zusammenhänge befreie, dass es sich von der Realität emanzipiere. Was für ein Unsinn, - in logischer Hinsicht. Nein, der "Wissenschaftler" sagt: Ich stelle mich einmal dumm und bilde mir ein, der Autor sei mir unbekannt. Was will uns das Kunstwerk sagen? Wie unbekannte Deutsch-Lehrer.
Der Herr in Wuppertal nennt es einen "Feldzug", dass ich wissen will, wie Schnitzler gehandelt hat. Ob Schnitzler dadurch "moralisch vernichtet" wird, dass man ermittelt, wie er sich verhalten hat, - das zu beurteilen, liegt nicht bei mir. Ich verstehe die Wut jenes Herrn nicht, der mir eine "fehlgeleitete Energie" vorwirft. Wahrscheinlich ist er erbost darüber, dass ich die Naivität zerstöre, in der manche der Schnitzler-Scholars befangen oder gefangen sind, und wünscht mir "ein würdigeres Ziel", d. h. für meinen "Feldzug". Mir ist Schnitzler "würdig" genug. Das "Schaudern", von dem er schreibt, verbirgt kaum, was er mir vorwirft, was einem alle vorwerfen, wenn man Schnitzler zu nahe tritt. Sei's drum. Die Ereignisse seit dem 30. Januar 1933 und dem 12. März 1938 dürfen die Untersuchung der Ereignisse nicht beeinflussen, die sich vierzig Jahre zuvor abgespielt haben.
So ist die Clique der Schnitzler-Scholars. Wenn man ihre Kreise stört, dann legen sie die professorale Vornehmheit ab und es erscheinen kleinbürgerliche Verbohrtheit im Verein mit Gehässigkeit, dann greift man zu Diffamierung: Wer Schnitzlers Verhalten untersucht, ist ein Anti-Semit. Und man isoliert den Abweichler, vermeidet, ihn zu zitieren. Was für gewöhnliche Menschen sind sie doch alle.
Literatur über Arthur Schnitzler
Konstanze Fliedl, Evelyne Polt-Heinzl, Reinhard Urbach, Schnitzlers Sprachen der Liebe, Wiener Vorlesungen im Rathaus, Bd. 147, Wien 2010
Darin: Konstanze Fliedl, Schnitzlers Sprachen der Liebe